Wer die Mukoviszidose seines Kindes nicht schulmedizinisch behandelt, begeht eine schwere Misshandlung. Das stellte der Bundesgerichtshof in einem Fall fest, der bundesweit für Schlagzeilen sorgte.
1999 zog eine Mutter mit ihrem 12-jährigen Mukoviszidose-Kind in eine Wohngemeinschaft mit spirituellen und esoterischen Lebensmittelpunkt, die von einem „Guru“ geleitet wurde. Bis dahin hatte er täglich inhaliert und alle notwendigen Medikamente genommen. Mutter und Guru lehnten Schulmedizin nicht grundsätzlich ab, „bevorzugten aber alternative Heilmethoden und natürliche Medikamente“. Der Sohn musste nicht mehr inhalieren, Medikamente wurden keine mehr besorgt, man ging nicht mehr mit ihm zum Arzt und kontrollierte weder das Gewicht, noch die Durchführung der Autogenen Drainage. Stattdessen stellte man ihm in Aussicht, dass seine Mukoviszidose bis zu seinem 18. Geburtstag geheilt würde, wenn er mehrmals täglich meditiere.
Der Junge glaubte diesem Versprechen, meditierte regelmäßig und verlangte auch nicht nach der lästigen CF-Therapie, weil er die langfristigen Folgen des Behandlungsabbruchs nicht überblicken konnte und diese auch nur schleichend und erst über Jahre eintraten. Innerhalb von drei Jahren verschlechterte sich der Gesundheitszustand aber bedrohlich: Er konnte nicht mehr am Schulsport teilnehmen, fehlte viel in der Schule, litt unter Atemnot und ständigen Kopfschmerzen aufgrund geringer Sauerstoffsättigung im Blut, die sich auch durch blaue Fingerkuppen zeigte. Er wog bei einer Größe von 159 cm nur noch 30,5 kg. Sein Zustand war damit potentiell lebensbedrohlich. Der Verlust seiner Lungenfunktion ist lt. Gericht überdurchschnittlich und irreversibel.
Die Angeklagten bemerkten die Folgen, änderten aber ihr Verhalten nicht. Das Gericht bewertet dies als „Quälen eines Schutzbefohlenen durch Unterlassen“, weil dem Jungen durch das Unterlassen erhebliche Schmerzen und Leiden zugefügt worden seien. Zwar wehrten sich die Angeklagten, sie hätten die Behandlung gegen den Willen des pubertierenden Jungen nicht durchsetzen können. Das Gericht entgegnete darauf, sie hätten den minderjährigen Sohn notfalls gegen seinen Willen, ggfs. unter Einschaltung der zuständigen Behörden, zur notwendigen Behandlung zwingen müssen. Wegen schwerer Misshandlung von Schutzbefohlenen, aufgrund der langen Tatzeit und der bleibenden Folgen für den Jungen müssen Mutter und Guru für je drei Jahre ins Gefängnis.
Der Bundesgerichtshof stellte insbesondere fest, dass den Angeklagten die Folgen der Unterlassung bewusst waren, sie aber die unangenehmen Auseinandersetzungen mit dem pubertär-schwierigen Patienten scheuten, so dass von einem bedingten Vorsatz ausgegangen werden konnte: Die Angeklagten haben den Jungen „durch Unterlassen der gebotenen medizinischen und therapeutischen Behandlung gequält“, denn Quälen bedeute das Verursachen länger andauernder Schmerzen, selbst wenn es aus Gleichgültigkeit oder Schwäche und durch Unterlassen geschehe.
Der BGH befasste sich auch mit dem Einwand, der Jugendliche habe die Therapie verweigert: Bei Mukoviszidose habe ein Behandlungsabbruch so schwerwiegende und irreversible Folgen, dass die Therapie notfalls gegen den Willen eines Jugendlichen durchgesetzt werden müsse. D.h. die Eltern müssten auf den Jugendlichen auch mit Hilfe des Jugendamtes einwirken, seine Therapie zu machen. Bei der Sorge um das körperliche Wohl des Kindes könnten Eltern zwar das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem und verantwortungsbewusstem Handeln berücksichtigen. Dies finde seine Grenze aber im Schutz des Minderjährigen vor konkreten Gefahren für Leib und Leben, weil das Kind zu einer Selbstbestimmung seiner Interessen rechtlich nicht in der Lage sei. Notfalls müsse ein Familiengericht den Jugendlichen sogar unter Freiheitsentzug in eine Klinik einweisen, wenn nur so die Behandlung sichergestellt werden könne. Das Familiengericht müsse dabei „von Amts wegen“ handeln, d.h. auch Hinweisen Dritter nachgehen.
Das 28-seitige Urteil des Bundesgerichtshof fasste Stephan Kruip für die muko.info 4/2015 zusammen. Aktenzeichen: 1 StR 624/14 vom 4. August 2015. Link zum Urteil. Der Junge verließ 2002 die Wohngemeinschaft und floh zu seinem Vater, dem das Sorgerecht übertragen wurde.